Kunstforschung
Was eine Monster Energy Drink Dose sieht, wenn sie uns betrachtet?
Oder das Potenzial der Darstellung des Monströsen

Was nun die 'Neue Normalität' in unserem Alltag zu bedeuten hat, dem soll hier nicht nachgegangen werden. Dennoch zeigt uns diese verschobene Realität nach der Pandemie zwangsläufig Perspektiven auf, welche wir uns vor ein paar Monaten nur schwer vorstellen konnten. So kann es meist produktiv sein, die Frage nach der Norm zu stellen - wer setzt sie und warum? Durch Texte, Sprache und Bilder, die eine Gesellschaft produziert, werden ihre Normen wieder ablesbar. Diese gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Metatexte werden gemeinsam und hierarchisch definiert, Subkulturen hingegen, die sich nicht als direkter Teil einer Gesellschaft verstehen, versuchen der Definition zu entgehen. Wer aus der Norm herausfällt erlebt eine Zurückweisung, ein Gegen-die-Wand-laufen oder das Überschreiten der roten Linie - oder ist es ein bewusster Entscheid ihr nicht zu entsprechen? Diese Abweichung soll hier besprochen werden, und als Vorschlag zum Diskurs dienen.

Wo findet also diese Abweichung der Norm, direkt und indirekt eine Grenzüberschreitung in der Kunst statt? Ich stiess auf die in den 1980-er Jahren in New York existierende Underground Szene um The Cinema of Transgression, wie sie Jack Sargeant (1995) mit Deathtripping: The Cinema of Transgression, Sylvère Lotringer und Susanne Pfeffer in ihrer Publikation You killed me first: The Cinema of Transgression (2012) formulierten. Ein Kino das als Grenzüberschreitung funktionieren soll. Der Begriff Cinema of Transgression tauchte erstmals als ein Manifest auf, das sich von der Generation des Avantgard-Films der 1960-er Jahre abwandte. Dieses Manifest, welches in der Publikation von Lotringer und Pfeffer Platz findet, wiederspricht einem Zeichensystem folgenden, strukturellen und formalen Verständnis von Film, wie es Jonas Mekas u.v.m. zu ihrer Zeit hatten.

Dieses Schreiben Cinema of Transgression Manifesto (1985) von Nick Zedd wird als Abgrenzung zu den damaligen Kunst- und Filmakademien gesehen, in welchen er und seine Filmkolleginnen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der damaligen Gesellschaft nicht miteinbezogen sahen. Sie wollten nicht mehr gleich filmen, wie es die Avantgarde vor ihnen tat, sondern den Regelbruch in Alltag und Film, eine Art , Fuck You' - Attitüde evozieren.
Die unterschiedlichsten Künstlerinnen, Musikerinnen und Schriftstellerinnen' um den „Cinema of Transgression' haben diese Kritik verinnerlicht und in ihren Werken angewendet. Diese fand in Form von Kinovorführungen, Performances, Live-Musik, Video-Screenings und Lesungen statt. Mit den Punk-typischen Attributen, um zu schockieren, mit wütend, aggressiver Musik im Keller, Low-Budget Videoproduktion und Anti-Establishment-Haltung trafen sie sich in den Souterrains der New York East-Side. In ihren meist Low-Fidelity, Do-It-Your-Self Videos, Para-Punk und Splatter- wie Gore-Movie ähnlichen Filmen zeigten sie Szenen von Gewalt, Sex und Tod. Mit den Mitten der Provokation, eines (genialen) Dilettantismus? und des schlechten Geschmacks, sollten die verschiedenen Videos und Performances ire Wirkung entfalten. Filme, wie es in der Bezeichnung , The Cinema of Transgression' schon gesagt wird, die im Affekt des Zurückschreckens und Ekels, als Provokation - sprich Grenzüberschreitung verstanden werden.

Die Arbeiten stellten das damalige gesellschaftliche Gefüge in Frage, welche mit dem sichtbarmachen von Sexszenen, Abscheulichkeiten, Exzessen und der brutalen Boulevardschlagzeilen über Mord und Totschlag auf die Wunden iener Gesellschaft gedrückt, die unter der Regierung von Roland Reagan so angepasst blieb. Die Künstlerinnen kritisierten, diese Doppelmoral und Erziehung der Bürger einer Generation um den damaligen Präsidenten Roland Reagan, die Leugnung des AIDS-Virus, die Armut und Gewaltprobleme in den USA. Diese Abgründe zu deuten und aufzuzeigen war eine bewusste Grenzüberschreitung, um die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu thematisieren und Wege zu finden ihr zu entkommen.

Im Folgenden möchte ich den Begriff des Transgressiven genauer erläutern, hierfür beschreibe ich exemplarisch Richard Kerns Film ,You Killed Me First' (1985). Die vermeintliche Idylle einer Mittelstandsfamilie beim Abendessen zeigt sich als ein theaterähnliches Setting und wird von der Tochter in kennzeichnender Post-Punk/NO-Wave Manier (und gespielt von Lung Lee) gestört. Das harte Scheinwerferlicht auf der Bühne verdeutlicht, dass in dieser Szene bald ein Drama aufzieht. Die pubertierende Rebellin wehrt sich zähnefletschend gegen die aufgestellten Spielregeln einer Gesellschaft und ihrer Eltern indem sie deren (Herrschafts-)Gläubigkeit, die einzuhaltende Tischmanieren, wie sie sich zu kleiden und mit wem sie sich zu treffen hat, hinterfragt. Die Reaktionen des Vaters und der Mutter äussern sich in Gewalt. Der Vater (dargestellt von David Woinarowicz) erschiesst den Hasen der Tochter, was als Machtdemonstration verstanden werden kann. Die Mutter (Karen Finley) zerstört verzweifelt die selbstgemalten Monsterbilder ihrer Tochter in ihrem düster tapezierten Zimmer voller Symbole der Adoleszenz. Die Schwester wird als ein Heranwachsende dargestellt, die sich der Rolle der Frau und des Erwachsenwerdens ,fügt', indem sie sich hübsch und feminin kleidet und einen Freund mit Nachhause bringt, der den Erwartungen der Eltern entspricht. Die Szene erreicht ihren Höhepunkt untermalt mit der tobenden Musik von J.G. Thirwell, als die junge Frau am Esstisch einen rasenden Monolog hält, der mit den Worten ,You Killed me First!' endet und daraufhin mit einer Pistole alle am Tisch sitzenden Familienmitglieder erschiesst. Dieser Exzess von Gewalt verdeutlicht den zerstörerischen Wahn und die aufklaffenden Wunden einer Generation, die von falscher Moral und sozialer Grenzziehung durchzogen ist. Einer Grenzziehung zwischen was als normal und gesellschaftsfähig galt und was nicht, auch eine stark vom wirtschaftlichen Aufschwung der Babyboomer-Generation vorangetrieben Vorstellung von Freiheit und sozialem Aufstieg trug dazu bei, die Bedingungen vieler zu verwässern. Die Reflektionen über diese Personen, die sich von der Gesellschaft abwenden und gegen sie rebellieren, kann interessant sein. So können diese Figuren des ‚Cinema of Transgression' mit dem Moment der Grenzüberschreitung in Verbindung gebracht werden. Sie provozieren und irritieren und sind Akteurinnen die, über die bildenden Kunst die Betrachterin herausfordern.

Man kann beim ,Cinema of Transgression' und seinen Filmen auf zwei Begriffe eingehen, zum einen der der Grenzüberschreitung und zum anderen einen etwas entfernter, den ich aber als fruchtbar für den Diskurs erachte: der des Monströsen. Diese Begriffe der Grenzüberschreitung und des Monströsen überschneiden sich in vielerlei Hinsicht. Diese zwei Aspekte sollen hier genauer ausgeführt und mit Beispielen aus der Theorie und Literatur zusätzlich veranschaulicht werden: Was wir alle gemein haben, ist der grenzüberschreitende Moment des Todes und die damit ausbleibende Wahrnehmung von Zeit. In Bezug auf die Grenzüberschreitung, der Moment der Feststellung, das man an (s)eine Grenze stösst, vielleicht keine Wörter dafür findet. Dieser Übergang vom Leben in den Tod versucht man erträglicher zu machen indem wir uns Geschichten erzählen, um die Angst davor zu lindern. Dieser poetische und transgressive Moment, wie ihn auch Michel Foucault nennt, liegt im Dazwischen - zwischen den Polen des Sagbaren und Unsagbaren, Machbaren und Unmachbaren, Erhörten und Unerhörten.

Parallel dazu steht die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Monströsen, dieser lässt vordergründig zurückschrecken, ist es in seiner Darstellung unmenschlich und oft ein deformiertes Wesen. Die Grenzüberschreitung ist also auch schon in der Darstellung des Monströsen zu lesen, man unterteilt in menschlich und unmenschlich, Norm und Deformation. Betrachtet man den Begriff Monster etymologisch, auf etwas Zeigen was moralisch verwerflich scheint. Monster, abgeleitet von Monstrum; lateinisch Mahnzeichen, zu monere; (er)mahnen. Es steckt noch mehr hinter seiner Darstellung, als nur der moralische Verweis und die Ermahnung.

Das Monströse entfaltet eine auffallende Wirkung, - die der Befremdung. So sind die Monster seit dem Mittelalter in ihrer Darstellung Zwischen-Wesen'. Es gibt etliche Dar- und Vorstellungen dieser Fabelwesen und Wundervölkern, die sich unterscheiden: Fabelwesen stellen sich als halb Mensch, halb Tier oder in verwandter Menschengestalt dar. Sie sind Mischwesen mit riesen Ohren, Fischschuppenbeinen oder Dämonen in menschlicher Gestalt. Die Wundervölker wurden schon in den griechischen Mythologien als von den Göttern gesandte Vorzeichen beschreiben, als eine Gruppe, die von den „normalen" Menschen abweicht. Die Wundervölker waren der Versuch, sich das Leben auf den noch weissen Flecken der Weltkarte vorzustellen. Sie stellten für den Menschen das Bedrohende und überdurchschnittlich Gefährliche dar. So waren sie die Deformation dessen, was der Klerus als Mittel nutzte um seine Herrschaft zu festigen, die sich in Abgrenzung vom Eigenen zum Anderen und Fremden verstand und ihre Macht halten und erklären konnte. Dieses „Deuten-auf-Andere" ist in den Uberlegungen der aktuellen Postkolonialen-, Gender -und Ethnik-Diskursen sowie dem Begriff des „Othering" wiederzufinden.

Diese Problematik der Ab- und Ausgrenzung zum Anderen, der Deutungsmacht und der befremdenden Reaktion auf das Monströse, wie ich es oben schon erwähnt habe, bedarf es einen Perspektivenwechsel*. In dem Band Cultural Turns, 2014 der sich mit der Entwicklung der Kulturwissenschaften beschäftigt, argumentiert Doris Bachmann-Medick, dass über den ‚interpretive turn' eine Methode, des ,genre blurring', einer Grenzüberschreitung der Disziplinen der Literatur, Wissenschaft und Philosophie, geschaffen wird, die den Einfluss unsere Perspektive aufzeigt und ebenso als Kritik gängiger Interpretationen dienen kann. Die andere Perspektive, die man beschreibt, spricht nicht ohne, dass die eigene Perspektive mit Einfluss hat.
Jede/r muss für sich selber sprechen, kann aber versuchen, in der Diskussion die Perspektive zu wechseln oder transparent zu machen, wer aus welcher Perspektive heraus spricht. Ebenso müssen die Anderen" für sich selber sprechen und dieses zurückgeben der Stimme und Sprache wird in den Diskursen des ,Cultural Turns mit Fragen nach alternativem Wissen oder alternativen Erzählungen beschrieben. Dieser Wechsel in der Perspektive kann sich gut anhand der Geschichte des Monsters von Victor Frankestein erzählen lassen. Die Geschichte von Mary Shelly Frankenstein, oder, der moderne Prometheus' zeigt beide Seiten mit einem breiten Blick auf. Die des Schreckens, da steht Victor Frankenstein als Schöpfer des Monsters und dem gegenüber das Leiden des Monsters an der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Mary Shelly schrieb 1818 die Urfassung der Gruselgeschichte über die Irrfahrten Victor Frankensteins, dem Forscher an Leben und Tod. Zum einen verfällt Viktor Frankenstein der Schöpfungsmacht, er schafft ein Wesen, diese Wesen stellt sein Gegenüber dar. Das Monster wird durch das Entziehen von Liebe, Zuneigung, der Erfahrung von Ausgrenzung, fehlender Tugend und Freude sowie dem daraus folgenden, bewussten nicht-empfinden von Reue, zu monströsen Taten getrieben. Beide Figuren haben ihre Unzugänglichkeiten; der eine hat Allmachtsphantasien, der andere Rachegelüste. Diese wertet Mary Shelly aber nicht in ihrer Geschichte, sondern legt beide nicht voreingenommen und ausführlich dar. Der Untertitel von Mary Shellys Roman; der moderne Prometheus, rührt aus der gemeinsamen Geschichte des Willens zu kreieren. So haben Prometheus und Frankenstein gemeinsam, dass sie versuchen menschliches Leben zu schöpfen, Prometheus aus Lehm, Frankenstein aus Leichenteilen. Sich über den Tod hinwegzusetzen und unendliches Leben zu schaffen, endet meist nicht gut, auch wenn sie Inbegriff von Fortschritt und medizinischen Errungenschaften sind. Man kann hier also zeigen, dass Frankenstein Beweggründe und die des Monsters von Mary Shelly wertefrei beschrieben wird. Das Bösartige, Unmenschliche und Grenzüberstreitende ist nicht entweder oder, es ist die Dualität zwischen den beiden, die Zwischentöne der Grenzen die beide überschreiten, die die Norm kippen lassen. Denn ohne Grenzen wüssten wir nicht, wo ihre Uberschreitung wäre. So beschriebt Foucault dieser Grenzüberschreitung wie folgt; „Die Überschreitung verhält sich also zur Grenze nicht wie das Schwarze zum Weißen, das Verbotene zum Erlaubten, das Äußere zum Inneren, das Ausgeschlossene zum geschützten Heim". Kehren wir zu den beiden Beispielen in Kunst und Literatur, des Cinema of Transgression und Mary Shellys Frankestein und sein Monster zurück: Beide bewegen sich am Rand einer Gesellschaft, als Aussenseiterinnen, die mit provozierenden Gesten die Norm herausfordert. Ihr Setting ist auf der Bühne bis hoch in den Archangelsk, wo sie Grenzen überschreiten. Aus der Sicht der Künstlerinnen und des Monsters sind wir diejenigen, die die Grenzen überschreiten.

Dieser Perspektivenwechsel, sich im Dazwischen bewegen, dieses Abweichen der Norm, die monströse Deformation (nicht die Monströse Tat an sich ist hier gemeint, sondern ihre Darstellung in Kunst und Literatur), dem daraus folgenden Versuch der Negierung des „Deuten der Anderen" sowie die Transparenz der Deutungshoheit sind immanent in der vorgeschlagen Diskussion. Diese Transgression kann künftig in der Kunst und Gesellschaft spannend sein, denn was uns heute noch provoziert, sei dahingestellt. Aber scheint die Darstellung des Monströsen eine Möglichkeit zu provozieren, eine Reaktion, Emotionen hervorrufen und die Betrachterin irrezuführen. Sind nicht die schönsten und poetischsten Momente, die irritierensten Momente?