Kuration
19.9.– 9.10.2021
Eine Ausstellung mit Virginia Ariu, Shelly Nadashi und Antek Walczak
Kuratiert von Nadja Stephanie Schmid

Deine Erzählung, meine Erzählung, Virginias Erzählung, Shellys Erzählung, Anteks Erzählung, die Erzählung der Leserin und Betrachterin – alle erzählen Geschichten über diese Ausstellung, jede:r eine andere, und gemeinsam ist ihnen ihre Unterschiedlichkeit. Nicht frei von der Form der Ausstellung, mit Sensibilität, Geschichten, die das Wesen der Erzähler:innen spiegeln, und vielleicht aus einer Laune heraus – vielleicht mit Sinn für Humor.

Beginnen wir mit dem Phänomen der Erzählung selbst: Jemand erzählt jemandem eine Geschichte, die nicht der Realität entsprechen muss. Vor allem nicht: der gleichen Realität entsprechen kann, da die Wahrnehmung einer Erzählung unterschiedlich ist. Eine dynamische Abfolge von Buchstaben, Wörtern und Sätzen, die ein Bild, einen Gegenstand oder eine Handlung versuchen zu umschreiben. Die Reihenfolge der Erzählung verschiebt sich immer wieder, da die Erzählung bei den Zuhörenden nicht das Gleiche auslöst. Niemals die gleichen Bilder hervorruft. Eine Erzählung ist mündlich, handschriftlich, gedruckt oder digital, immer in Bewegung.

Dasselbe gilt für die Beschreibung eines Bildes. Obwohl zwei Personen das gleiche Material, seine Beschaffenheit sehen, gestalten sie bildlich wie sprachlich die Erzählung darüber jeweils anders. Die Erzählung über das Bild lässt keine Rückschlüsse über die erzählende Person zu. Das fängt damit an, wenn zum Beispiel jemand farbenblind ist und rot und grün nicht unterscheiden kann, sie als braun wahrnimmt. Es gibt sprachliche wie visuelle Formen der Erzählung, das Abbild der Form ist aber nicht dieselbe Erzählung. Eine scheinbar unwichtige oder mündliche Erzählung hat meist mehr Kraft als eine mit Symbolen überladene Geschichte.

Übersetzungen zeigen einen weiteren Faktor der Erzählung auf. Die englische Übersetzung kann nicht das gleiche sein wie die deutsche. Eine Person versucht, die eine Sprache in die andere zu übersetzen, und zeigt auf, was die Sprache nicht kann. Was sie ausspuckt, sind die Differenz und der Widerspruch, die einer Sprache eingeschrieben sind oder auch das Unvermögen, sie zu benennen.

Nimmt man die einzelnen Erzählungen der Kunstwerke hier in der Ausstellung, so werden unterschiedliche Formen der Erzählung sichtbar. Was lässt sich über diese Möglichkeiten sagen? Eine dieser Möglichkeiten der Erzählung ist, das Sichtbare und damit das Unsichtbare zu beschreiben. Was wir sehen, zeigt uns auch, was wir nicht sehen. Ein Paravent, der uns die Sicht versperrt. Uns voyeuristisch in Versuchung bringt, das Motiv dahinter zu entziffern. Der Raumteiler wird zu einem Spiel, inszeniert von der Künstlerin. Die Sicht ist milchig und verschwommen. Der Versuch, das Sichtbare zu observieren, zu entdecken, was dahintersteckt, wird zu einer Erzählung, die sich und ihre Gestalt verändern kann und deren Schein womöglich trügt.

Eine weitere Art der Erzählung fokussiert auf den Dialog zwischen der Masseurin und ihrer Klientin. Ein Dialog, der nur aus den beiden Protagonistinnen besteht, es werden keine aufwändige Bühne oder Dekor verwendet. Physisch wie sprachlich werden Ratschläge und Sehnsüchte einmassiert. Ein Kammerspiel, welches auf der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen basiert.
Hinzu kommt die Erzählung aus dem Off. Wir sehen die sprechende Person nicht, hören sie aber. Murmelnd, schnalzend oder mit klarer Stimme vernehmen wir ihre Geschichte, die darauf hinweist, wohin die Handlung gehen könnte. Die Stimme scheint allwissend zu sein.

In diesen unterschiedlichen Erzählungen suchen wir wahrscheinlich nach dem Widerständigen, nach dem Dilemma. Und schlüpfen in unterschiedliche „Rollen“, eignen uns die Perspektiven der Darsteller:innen an. Da ist zum einen die Künstlerin, die uns observiert und unsere Bewegung manövriert, da sind die Masseurin und ihre Klientin, die Jungen Mädchen, die durch den Erzähler im Off in vier Geschichten zusammengehalten werden.

Was geschieht schlussendlich mit unserer Erzählung? Über ihr Transparent Machen wird sie vielleicht weitererzählt.1 Zumindest können die Erzählungen kurz einen Gedanken, ein Gefühl anstossen, auch wenn sie nur flüchtig waren und wieder verschwinden.

1 Die Herangehensweise dieses Ausstellungtextes verweist auf den Aufsatz von Susan Sontag „Gegen Interpretation“ (1964).

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