Was eine Monster Energy Drink Dose sieht, wenn sie uns betrachtet?
2020
Was nun die ‘Neue Normalität’ in unserem Alltag zu bedeuten hat, dem soll hier nicht nachgegangen werden. Dennoch zeigt uns diese verschobene Realität nach der Pandemie zwangsläufig Perspektiven auf, welche wir uns vor ein paar Monaten nur schwer vorstellen konnten. So kann es meist produktiv sein, die Frage nach der Norm zu stellen - wer setzt sie und warum? Durch Texte, Sprache und Bilder, die eine Gesellschaft produziert, werden ihre Normen wieder ablesbar. Diese gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Metatexte werden gemeinsam und hierarchisch definiert, Subkulturen hingegen, die sich nicht als direkter Teil einer Gesellschaft verstehen, versuchen der Definition zu entgehen. Wer aus der Norm herausfällt, erlebt eine Zuruckweisung, ein gegen die Wand laufen oder das Überschreiten der roten Linie - oder ist es ein bewusster Entscheid, ihr nicht zu entsprechen? Diese Abweichung soll hier besprochen werden und als Vorschlag zum Diskurs dienen. Wo findet also diese Abweichung der Norm und direkt und indirekt eine Grenzuberschreitung in der Kunst statt? Ich stiess auf die in den 1980-er Jahren in New York existierende Underground Szene um The Cinema of Transgression, wie sie Jack Sargeant (1995) mit Deathtripping: The Cinema of Transgression, Sylvère Lotringer und Susanne Pfeffer in ihrer Publikation You killed me first: The Cinema of Transgression (2012) formulierten. Ein Kino, das als Grenzuberschreitung funktionieren soll. Der Begriff Cinema of Transgression tauchte erstmals als ein Manifest auf, das sich von der Generation des Avantgard-Films der 1960-er Jahre abwandte. Dieses Manifest, welches in der Publikation von Lotringer und Pfeffer Platz findet, widerspricht einem Zeichensystem folgenden, strukturellen und formalen Verständnis von Film, wie es Jonas Mekas u. v. m. zu ihrer Zeit hatten. Dieses Schreiben Cinema of Transgression Manifesto (1985) von Nick Zedd wird als Abgrenzung zu den damaligen Kunst- und Filmakademien gesehen, in welchen er und seine Filmkolleginnen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der damaligen Gesellschaft nicht mit einbezogen sahen. Sie wollten nicht mehr gleich filmen, wie es die Avantgarde vor ihnen tat, sondern den Regelbruch in Alltag und Film, eine Art ‚Fuck You’ - Attitude evozieren. Die unterschiedlichsten Kunstler:innen, Musiker:innen und Schriftsteller:innen um den ‚Cinema of Transgression’ haben diese Kritik verinnerlicht und in ihren Werken angewendet. Diese fand in Form von Kinovorfuhrungen, Performances, Live-Musik, Video-Screenings und Lesungen statt. Mit den Punk-typischen Attributen, um zu schockieren, mit wutend-aggressiver Musik im Keller, Low-Budget Videoproduktion und Anti-Establishment-Haltung trafen sie sich in den Souterrains der New York East-Side. In ihren meist Low-Fidelity-, Do-It-Your-Self-Videos, Para-Punk- und Splatter- wie Gore-Movie-ähnlichen Filmen zeigten sie Szenen von Gewalt, Sex und Tod. Mit den Mitteln der Provokation, eines (genialen) Dilettantismus und des schlechten Geschmacks,sollten die verschiedenen Videos und Performances ihre Wirkung entfalten. Filme, wie es in der Bezeichnung ‚The Cinema of Transgression’ schongesagt wird, die im Affekt des Zuruckschreckens und Ekels als Provokation –sprich Grenzuberschreitung verstanden werden. Die Arbeiten stellten das damalige gesellschaftliche Gefuge in Frage, welches mit dem Sichtbarmachen von Sexszenen, Abscheulichkeiten, Exzessen und brutalen Boulevardschlagzeilen uber Mord und Totschlag auf die Wunden jener Gesellschaft gedruckt wurde, die unter der Regierung von Roland Reagan so angepasst blieb. Die Kunstlerinnen kritisierten, diese Doppelmoral und Erziehung der Burger einer Generation um den damaligen Präsidenten Roland Reagan, die Leugnung des AIDS-Virus, die Armut und Gewaltprobleme in den USA. Diese Abgrunde zu deuten und aufzuzeigen, war eine bewusste Grenzuberschreitung, um die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu thematisieren und Wege zu finden, ihr zu entkommen.
Abbildung 1:
Poster des Videos ‘You Killed me First’
Richard Kern, 1985
Poster des Videos ‘You Killed me First’
Richard Kern, 1985
Im Folgenden möchte ich den Begriff des Transgressiven genauer erläutern. Hierfur beschreibe ich exemplarisch Richard Kerns Film ‚You Killed Me First‘ (1985). Die vermeintliche Idylle einer Mittelstandsfamilie beim Abendessen zeigt sich als ein theaterähnliches Setting und wird von der Tochter in kennzeichnender Post-Punk/No-Wave Manier (und gespielt von Lung Lee) gestört. Das harte Scheinwerferlicht auf der Buhne verdeutlicht, dass in dieser Szene bald ein Drama aufzieht. Die pubertierende Rebellin wehrt sich zähnefletschend gegen die aufgestellten Spielregeln einer Gesellschaft und ihrer Eltern, indem sie deren (Herrschafts-)Gläubigkeit, die einzuhaltenden Tischmanieren, wie sie sich zu kleiden und mit wem sie sich zu treffen hat, hinterfragt. Die Reaktionen des Vaters und der Mutter äussern sich in Gewalt. Der Vater (dargestellt von David Wojnarowicz) erschiesst den Hasen der Tochter, was als Machtdemonstration verstanden werden kann. Die Mutter (Karen Finley) zerstört verzweifelt die selbst gemalten Monsterbilder ihrer Tochter in ihrem duster tapezierten Zimmer voller Symbole der Adoleszenz. Die Schwester wird als ein Heranwachsende dargestellt, die sich der Rolle der Frau und des Erwachsenwerdens ‚fugt‘, indem sie sichhubsch und feminin kleidet und einen Freund mit Nachhause bringt, der denErwartungen der Eltern entspricht.
Die Szene erreicht ihren Höhepunkt, untermalt mit der tobenden Musik von J. G. Thirwell, als die junge Frau am Esstisch einen rasenden Monolog hält, der mit den Worten ‚You Killed me First!’ endet und daraufhin mit einer Pistole alle am Tisch sitzenden Familienmitglieder erschiesst. Dieser Exzess von Gewalt verdeutlicht den zerstörerischen Wahn und die aufklaffenden Wunden einer Generation, die von falscher Moral und sozialer Grenzziehung durchzogen ist. Einer Grenzziehung zwischen dem, was als normal und gesellschaftsfähig galt und dem, was nicht, trug auch eine stark vom wirtschaftlichen Aufschwung der Babyboomer-Generation vorangetriebene Vorstellung von Freiheit und sozialem Aufstieg dazu bei, die Bedingungen vieler zu verwässern. Die Reflexion uber diese Personen, die sich von der Gesellschaft abwenden und gegen sie rebellieren, kann interessant sein. So können diese Figuren des ‚Cinema of Transgression‘ mit dem Moment der Grenzuberschreitung in Verbindung gebracht werden. Sie provozieren und irritieren und sind Akteur:innen, die uber die bildende Kunst die Betrachterin herausfordern. Man kann beim ‘Cinema of Transgression’ auf zwei Begriffe eingehen, zum einen auf den der Grenzuberschreitung und zum anderen auf einen etwas entfernten, den ich aber als fruchtbar fur den Diskurs erachte: den des Monströsen. Diese Begriffe der Grenzuberschreitung und des Monströsen uberschneiden sich in vielerlei Hinsicht. Diese zwei Aspekte sollen hier genauer ausgefuhrt und mit Beispielen aus der Theorie und Literatur zusätzlich veranschaulicht werden: Was wir alle gemein haben, ist der grenzuberschreitende Moment des Todes und die damit ausbleibende Wahrnehmung von Zeit. In Bezug auf die Grenzuberschreitung, der Moment der Feststellung, dass man an (s)eine Grenze stösst, vielleicht keine Wörter dafur findet. Diesen Übergang vom Leben in den Tod versucht man erträglicher zu machen, indem wir uns Geschichten erzählen, um die Angst davor zu lindern. Dieser poetische und transgressive Moment, wie ihn auch Michel Foucault nennt, liegt im Dazwischen – zwischen den Polen des Sagbaren und Unsagbaren, Machbaren und Unmachbaren, Erhörten und Unerhörten. Parallel dazu steht die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Monströsen. Dieser lässt vordergrundig zuruckschrecken, ist in seiner Darstellung unmenschlich und oft ein deformiertes Wesen. Die Grenzuberschreitung ist also auch schon in der Darstellung des Monströsen zu lesen. Man unterteilt in menschlich und unmenschlich, Norm und Deformation. Betrachtet man den Begriff „Monster“ etymologisch, auf etwas Zeigen, was moralisch verwerflich scheint. Monster, abgeleitet von Monstrum; lateinisch Mahnzeichen, zu monere; (er)mahnen. Es steckt noch mehr hinter seiner Darstellung, als nur der moralische Verweis und die Ermahnung.
Abbildung 2:
Bild aus Herold, Heydenwelt, 16. Jahrhundert
Bild aus Herold, Heydenwelt, 16. Jahrhundert
Das Monströse entfaltet eine auffallende Wirkung, – die der Befremdung. So sind die Monster seit dem Mittelalter in ihrer Darstellung Zwischen-Wesen . Es gibt etliche Darund Vorstellungen dieser Fabelwesen und Wundervölkern, die sich unterscheiden: Fabelwesen stellen sich als halb Mensch, halb Tier oder in verwandter Menschengestalt dar. Sie sind Mischwesen mit Riesenohren, Fischschuppenbeinen oder Dämonen in menschlicher Gestalt. Die Wundervölker wurden schon in den griechischen Mythologien als von den Göttern gesandte Vorzeichen beschrieben, als eine Gruppe, die von den „normalen“ Menschen abweicht. Die Wundervölker waren der Versuch, sich das Leben auf den noch weissen Flecken der Weltkarte vorzustellen. Sie stellten für den Menschen das Bedrohende und uberdurchschnittlich Gefährliche dar. So waren sie die Deformation dessen, was der Klerus als Mittel nutzte, um seine Herrschaft zu festigen, die sich in Abgrenzung vom Eigenen zum Anderen und Fremden verstand und ihre Macht halten und erklären konnte.
Dieses „Deuten-auf-Andere“ ist in den Überlegungen der aktuellen Postkolonialen-, Genderund Ethnik-Diskursen sowie dem Begriff des „Othering“ wiederzufinden. Diese Problematik der Ab- und Ausgrenzung zum Anderen, der Deutungsmacht und der befremdenden Reaktion auf das Monströse, wie ich es oben schon erwähnt habe, bedarf es einen Perspektivenwechsel . In dem Band Cultural Turns, 2014, der sich mit der Entwicklung der Kulturwissenschaften beschäftigt, argumentiert Doris Bachmann-Medick, dass uber den ‚Interpretive Turn‘ eine Methode, des ‚Genre Blurring‘, einer Grenzuberschreitung der Disziplinen der Literatur, Wissenschaft und Philosophie, geschaffen wird, die den Einfluss unserer Perspektive aufzeigt und ebenso als Kritik gängiger Interpretationen dienen kann. Die andere Perspektive, die man beschreibt, spricht nicht ohne, dass die eigene Perspektive Einfluss hat. Jede*r muss fur sich selber sprechen, kann aber versuchen, in der Diskussion die Perspektive zu wechseln oder transparent zu machen, wer aus welcher Perspektive heraus spricht. Ebenso mussen „die Anderen” fur sich selber sprechen und dieses Zuruckgeben der Stimme und Sprache wird in den Diskursen des ‚Cultural Turns‘ mit Fragen nach alternativem Wissen oder alternativen Erzählungen beschrieben. Dieser Wechsel in der Perspektive kann sich gut anhand der Geschichte des Monsters von Victor Frankenstein erzählen lassen. Die Geschichte von Mary Shelly 'Frankenstein, Der moderne Prometheus‘ zeigt beide Seiten mit einem breiten Blick auf. Die des Schreckens, da steht Victor Frankenstein als Schöpfer des Monsters und demgegenuber das Leiden des Monsters an der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Mary Shelly schrieb 1818 die Urfassung der Gruselgeschichte uber die Irrfahrten Victor Frankensteins, dem Forscher an Leben und Tod. Zum einen verfällt Viktor Frankenstein der Schöpfungsmacht. Er schafft ein Wesen, dieses Wesen stellt sein Gegenuber dar. Das Monster wird durch das Entziehen von Liebe, Zuneigung, der Erfahrung von Ausgrenzung, fehlender Tugend und Freude sowie dem daraus folgenden, bewussten Nichtempfinden von Reue zu monströsen Taten getrieben. Beide Figuren haben ihre Unzugänglichkeiten; der eine hat Allmachtphantasien, der andere Rachegeluste. Diese wertet Mary Shelly aber nicht in ihrer Geschichte, sondern legt beide nicht voreingenommen und ausfuhrlich dar.
Abbildung 3:
Erstausgabe 1831, Mary Shelly, ‘Frankenstein der moderne Prometheus’
Erstausgabe 1831, Mary Shelly, ‘Frankenstein der moderne Prometheus’